Systemvergleich: Hegel vs. Luhmann und ihre Zettelkästen
Irgendwo in Stuttgart, 1785: Ein fünfzehnjähriger Leser beginnt, noch Gymnasiast, lose Blätter mit Ordnung, Fleiß und Exzerpten zu beschreiben: "Bei seiner Lectüre ging er nun folgendermaaßen zu Werke. Alles:, was: ihm bemerkens:werth schien -- und was: schien es: ihm nicht! -- schrieb er auf ein einzelnes: Blatt, welches: er oberhalb mit der allgemeinen Rubrik bezeichnete, unter welche der besondere Inhalt subsumirt werden mußte. In die Mitte des: oberen Randes: schrieb er dann mit großen Buchstaben, nicht selten mit Fracturschrift das: Stichwort des: Artikels:. Diese Blätter selbst ordnete er für sich wieder nach dem Alphabet und war mittelst dieser einfachen Vorrichtung im Stande, seine Excerpte jeden Augenblick zu benutzen." (Rosenkranz, Karl, 1844/1969, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, S. 12f.) Der junge Leser richtet mit jedem seiner zur alphabetischen Abfolge gruppierten Zettel eine neue Adresse ein, die fortan den Ort bildet für die Begriffe, auf die sich seine künftige Tätigkeit als Philosoph und Gelehrter stützen wird.
Wenngleich Hegels berühmter Zettelkasten vielleicht im Nachlaß der Stiftung Preußischer Kulturbesitz unentdeckt schlummert, -- und damit ein ungelöstes Adressierungsproblem für Forschungsfragen darstellt --, oder er tatsächlich verloren ist, läßt sich dennoch ein Eindruck von Hegels Exerpierpraxis gewinnen. Neben handbeschriebenen Zetteln, die den gewünschten Weg des Schülers bereits erahnen lassen, etwa zu den Stichworten Akademie, Pädagogik, Lehrart oder der Gelehrsamkeit der Ägypter finden sich in Manuskripten aus Hegels Stuttgarter Zeit auch Eintragungen zu Mönchen, zur Seele oder aber über den "Weg zum Glück in der großen Welt. Den 16. Oktober 1786. (Zimmermann über die Einsamkeit. II.T.V. Kap.)
Der Durchblick, der in der großen Welt in allen feinen, bösen, kitzlichen und gefährlichen Umständen des Lebens für jeden Menschen alles sagt und entscheidet, ist nicht Philosophie. Er ist nicht das Federlesen, nicht das langsame Abwickeln der Gedanken, nicht das Zweifeln und Schwanken, das Ja und Nein, woran sich oft der größte philosophische Denker in der Einsamkeit so sehr gewöhnt. Rasch und schlank, auf allen Seiten beweglich und doch fest und keck, muß man in allem zu Werke gehen, immer geschwind, furchtfrei und mutig. Dies ist zwar der Weg zu unzähligen Fehlern, die kein Philosoph begeht, aber auch der einzige, beste und sicherste Weg zum Glücke in der großen Welt." (Hoffmeister, Johannes (Hrsg.), 1936, Dokumente zu Hegels Entwicklung, Fr. Frommans Verlag, Stuttgart, S. 100) Der Kommentar weiß, daß Hegel die Worte bis auf den eigenen Titel, indem er ihn ironisch wendet, wortwörtlich aus Johann Georg Zimmermann, Über die Einsamkeit entnimmt. Überdies befinden sich auf dem gleichen Manuskript -- zusätzlich zu diesem Exzerpt -- weitere Passagen zum Thema Glückseligkeit, gezogen aus früheren Lektüren in anderen Texten. Also doch eine Systematik in den Zetteln vs. der alphabetischen Gruppierung? Die frühe Ordnung des Zettelkastens verdankt sich der jung gewonnenen Umsicht, "daß Hegels Gemüt mit allgemeinen wichtigen Problemen sich systematisch beschäftigte." (Ebd., Fußnote 2) Irgendwo in Bielefeld-Oerlinghausen, 1997: Ein nunmehr 70jähriger Gelehrter und Philosoph beobachtet sich, vertieft in Lektüre: "Wenn ich etwa ein Buch lese, gehe ich folgendermaßen vor: Ich habe immer einen Zettel zur Hand, auf dem ich mir die Ideen bestimmter Seiten notiere. Auf der Rückseite halte ich die bibliographischen Angaben fest. Wenn ich das Buch durchgelesen habe, dann gehe ich diese Notizen durch und überlege, was für welche bereits geschriebenen Zettel wie auswertbar ist. Ich lese also immer mit einem Blick auf die Verzettelungsfähigkeit von Büchern." (Luhmann, Niklas, 1987, Archimedes und wir. Interviews. Herausgegeben von Dirk Baecker und Georg Stanitzek, Merve Verlag, Berlin, S. 149f) Der emeritierte Professor pflegt immer noch seine beträchtliche und legendäre Sammlung von Notizen und handbeschriebenen Zetteln, indem er die Kommentare und Einfälle zu seiner Lektüre verbindet mit den bisherigen Begriffen, die in Form von "Zettel im Oktav-Format", (Niklas Luhmann, "Kommunikation mit Zettelkästen. Ein Erfahrungsbericht". In: Kieserling, André, Universität als Milieu, Haux, Bielefeld, 1993, S. 53-61, hier 55.) versehen mit Sigel und Stichwort, weiterhin verzeichnet im Register seines Kastens auf Anschlüsse warten. "Was macht man mit dem Aufgeschriebenen? Sicher produziert man zunächst weitgehend Abfall. Wir sind aber so erzogen, daß wir von unseren Tätigkeiten etwas Nützliches erwarten und anderenfalls rasch den Mut verlieren. Man sollte deshalb überlegen, ob und wie man die Notizen so aufbereitet, daß sie für späteren Zugriff zur Verfügung stehen, oder dies einem zumindest als tröstende Illusion vor Augen steht." (Luhmann, Niklas, 1995, Lesen lernen, unveröffentlichtes Typoskript, Bielefeld, S. 3.)
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