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Der Hypertext aus dem Zettelkasten

Der Hypertext aus dem Zettelkasten

Wenn Wörter zu Drogen werden und das Bücherlesen einen physischen Kraftakt verlangt.

Um an einen Hypertext zu gelangen, musste man nicht erst aufs Internet oder einen Cyber-Propheten wie Ted Nelson warten. Wer James Joyce gelesen hat, der weiß, dass ein komplexer Text ein Geflecht aus Tausenden Anspielungen und Querverweisen ist.

Vor dem Mausklick auf einen Link stand also das Assoziieren im Kopf, und kaum jemand trieb dieses Prinzip so weit wie der kauzige Arno Schmidt, jener deutsche Schriftsteller, der den Großteil seines Lebens in der menschenarmen Lüneburger Heide verbrachte (Wie sonst kommt jemand auf Buchtitel wie "Kühe in Halbtrauer"?).

Schmidt setzte die Schreibpraxis von Joyce fort, und stärker als Joyce versuchte er, den Anspielungsreigen seiner Texte auch in Schriftbildern festzuhalten. Da müssen Wörter schon einmal auf Bruchstriche geschrieben werden, muss die Interpunktion förmlich durch Sätze und Wörter hindurchtanzen.

1.334 DIN-A3-Seiten

Im Jahr 1970 erschien Schmidts Hauptwerk, "Zettels Traum", ein Roman, geschrieben auf 1.334 (!) DIN-A3-Seiten. Will ein Verleger den Zettelstapel zum Buch machen, dann gelangt er schlicht zu so etwas wie der Antithese zum Taschenbuch.

Zum Vergrößern anklicken / ©Bild: Arno Schmidt Stiftung Zum Vergrößern anklicken / ©Bild: Arno Schmidt Stiftung

Denn "Zettels Traum" lässt sich nur als Faksimile wiedergeben, besteht der Roman doch aus einer Mischung aus Schreibmaschinentext, handschriftlichen Korrekturen, Anmerkungen, Zeichnungen, eingeklebten Fotos und Zeitungsausschnitten.

Lange Zeit gab es das bei S. Fischer erschienene Buch nur in einer schweren und sehr teuren Ausgabe. Später versuchte man sich an einer verkleinerten Taschenbuchausgabe, was aber wie ein Widerspruch zur Erstausgabe aussah.

7,6 Kilo Buch

Nun hat man eine relativ "günstige" Leseausgabe hergestellt, die beinahe an die Originaldimensionen des Werkes herankommt: Für knapp über 150 Euro bekommt man immerhin 7,6 Kilo Buch, also ein gewichtiges Werk, das mit dem leicht gelblichen Papier das Herz jedes Buchliebhabers höher schlagen lässt.

"Zettels Traum" anzugehen, das ist nicht nur das Wagnis zu einem geistigen Höhenflug, das ist schon beim Aufklappen des Buches ein ungemein sinnliches Vergnügen: "('drugged words', gedopte Sylben: Ihr bereut's noch!", heißt nicht umsonst eine Warnung auf Zettel (=Seite) 24.

120.000 Notizzettel

Zum Vergrößern anklicken / ©Bild: S. Fischer Verlage Zum Vergrößern anklicken / ©Bild: S. Fischer Verlage

"Zettels Traum" ist ein Roman, aber noch mehr als ein Roman ist es ein Hirngespinst, zusammengesetzt aus 120.000 Notizzetteln, auf die Schmidt spontane Ideen und andere Einfälle notiert hatte. "Zettels Traum" trägt in diesem Sinn einen programmatischen und zugleich ironischen Titel für ein aus dem Zettelkasten geborenes Buch.

Zettel, das ist aber auch der Weber aus Shakespeares "Sommernachtstraum", und an Shakespeare erinnert das vorangestellte "Motto" des Buches: "des Menschen Aug' hat's nicht gehört, des Menschen Ohr hat's nicht gesehen, des Menschen Hand kann's nicht schmecken, seine Zunge kann's nicht begreifen, und sein Herz nicht wieder sagen, was mein Traum war."

: Anna Muh=Muh !'

"Dizzyköpfigstes schüttelt den Morgen aus", heißt es relativ zu Beginn von "Zettels Traum". "No na", könnte man da als geübter Frühaufsteher sagen, würde man nicht zugleich in der anderen Spalte den Hinweis lesen: ": Anna Muh=Muh !'". Das muss einen freilich nur zum Teil stutzig machen, ist die Handlung des Buches doch relativ leicht zusammengefasst.

Pagenstecher, Poe & Lolita

Der alternde Schriftsteller und Historiker Pagenstecher, so etwas wie Schmidts Alter Ego, erhält an einem Sommertag Besuch von dem Übersetzer-Ehepaar Jacobi und deren 16-jähriger Tochter Franziska. Man redet über Gott und die Welt, vor allem aber über Edgar Allan Poe, denn das Ehepaar arbeitet an einer Übersetzung seiner Werke.

Wie bei "Ulysses" gibt ein einziger Tag den Handlungsrahmen für das Buch vor. Statt durch Dublin streift man durch die (Lüneburger?) Heide, geht baden und verrichtet andere ganz alltägliche Dinge. Unzählige Nebenstränge lenken freilich ab von der Alltäglichkeit, etwa, dass die lolitahafte Tochter der Jacobis den alternden Pagenstecher in sexuelle Wirrnisse stürzt.

Ein Zettel=drei Spalten

Jede Seite bzw. jeder Zettel in dem Buch besteht aus drei Textteilen. Der Haupttext widmet sich dem Tag in der Heide, die linke Spalte gibt verzerrte Textfetzen von und zu Edgar Allan Poe wieder. In der rechten Spalte stehen Kommentare auf das ohnedies schon verworrene Geschehen.

Lineares Lesen lässt sich nur zum Teil verwirklichen. Möglicherweise schätzen aber gerade Internet erfahrene Leser die andauernden Einladungen, zwischen den Textteilen hin- und herzuwechseln und sich vom Sprachwitz und Anspielungsreichtum eines sich stets wandelnden Erzählers wegtragen zu lassen - immerhin schließt ja Lesen im Web die Bereitschaft zu einem andauernden Seitenwechsel ein.

Die "Etyms"

Schmidt hat die Technik des Bewusstseinsstroms im modernen Roman radikal verschärft. Er zertrümmert die bekannte Wortgestalt, um die assoziative Fantasie beim Lesen zu steigern.

Schmidts kauziges Erzählverfahren orientiert sich an den "Etyms", das sind für ihn lautliche Übereinstimmungen zwischen Wörtern oder Wortbestandteilen mit anderen Wörtern.

Unbewusst wechselt man zwischen Wörtern mit ganz unterschiedlichen Bedeutungen, einfach auf Grund phonetischer Ähnlichkeiten. Wer also "ganz" sagt, hat die "Gans" und andere schlimme Sachen immer schon mitgedacht.

In Schmidt-Prosa gegossen, liest sich die "Etym"-Definition folgendermaßen: ";/(sie nickten schnell:!)/(Glückliches Völkchen; mir wars nicht ganz klar,)).:"

Eine vierte Instanz

Mit beginnender Impotenz, so war sich Schmidt sicher, bilde sich neben dem Freudschen "Ich", "Es" und "Über-Ich" im alternden Mann (der Mann nach fünfzig!) noch eine "vierte Instanz", nämlich jene, die über die "Etyms" verwaltet. Die sexuelle Triebhaftigkeit, das ist beim alten Schmidt am Ende die Sprache.

Oder in Heide-Prosa umgesetzt, wie bei Walter Kemposwki in seinem "Zeit"-Nachruf auf Schmidt (1979): "Er (Arno Schmidt) grast nicht nur ab, sondern gräbt auch nach den Wurzeln."

Die dritte Wurzel aus "p"

Dass möglicherweise nicht so viele Menschen bei Schmidts Experimenten mitkommen würden, war dem eigenbrötlerischen Literaten bewusst. Die Zahl derer, die "Zettels Traum" verstehen würden, brachte Schmidt auf eine mathematische Formel: die dritte Wurzel aus "p" - "p" war für ihn damals die Einwohnerzahl der Bundesrepublik Deutschland, also 61 Millionen. Macht am Ende 391.

Gerald Heidegger, ORF.at

Das Buch

Arno Schmidt, Zettels Traum. 1.360 Seiten. S. Fischer Verlag 2004. 153,20 Euro (Subskriptionspreis bis 31.12.2004); danach 199 Euro.

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Fernsehen: ORF, http://www.orf.at [ID 6]