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Lesen, Schreiben, Zettelkästen

Lesen, Schreiben, Zettelkästen

Ein Werkstattbericht aus dem Alltag eines Studierenden der Geisteswissenschaften

Die erste Sitzung meines ersten Proseminars meines ersten Studienfaches hat sich tief in den Bildspeicher meines Hirns eingebrannt. Ich sehe noch, wie der Herr Professor uns genüßlich fünfseitige Literaturlisten aushändigt mit dem Kommentar: "Lesen Sie doch bis zum nächsten Mal den Bendix, als kleinen Überblick, und dann könnten Sie eigentlich auch noch..." Und sehe mich besagten Bendix lesen. Wie einen Roman, mit dem ersten Wort im ersten Kapitel anfangen, nach mehreren hundert Seiten mit der letzten Silbe des letzten Kapitels aufhören. Halt ein Buch lesen. Keine große Kunst. Lesen. Einfach Zeile um Zeile folgen, nichts auslassen, man könnte ja sonst etwas Wichtiges verpassen, nichts überfliegen, jeder Formulierung folgen.

Es war die Hölle. Ich las Stunden um Stunden - und verstand nichts. Ich peitschte mich Seite um Seite voran, es blieb einfach nichts hängen. Auf meiner inneren Mattscheibe erschien das Bild des besagten Professors. Wenn ich ihn nicht mit Dartpfeilen bewarf, dann wuchs er vor meinem inneren Auge zum Herakles der Bücherregale heran. Wie konnte tatsächlich ein Mensch soviele Bücher gelesen haben und sie dann auch noch so prägnant wiedergeben können? Ich war auf eine andere Spezies Mensch gestoßen, die ohne Schlaf auskommt und tagein tagaus nur Bücher in sich hineinstopft.

Es bedurfte einiger Zeit, dann gab ich die Methode, wissenschaftliche Bücher wie Romane zu lesen, auf. Sie schien mir unverträglich mit meiner Freizeitgestaltung und meinem Schlafbedürfnis. Eine viel bessere und effektivere wartete auf mich, das schnelle Lesen. Ich begann, durch alle Texte in Windeseile durchzupflügen, meinen quantitativen Leseoutput drastisch zu erhöhen, Tempo zu machen, zu überfliegen, auszulassen. Zunächst steigerte dies meine Zufriedenheit. Ich konnte abends zumindest ein Buch als `Gelesen´ deklarieren. Doch auf qualitativer Seite blieb alles beim Alten. Nichts blieb hängen, ich las und las mit hohem Tempo, doch nach den zentralen Asusagen eines Textes gefragt, konnte ich nur müde mit den Schultern zucken. Das Bild meines Professors gewann eine geradezu mystische Ausstrahlung. Er schien nicht nur zu einer schlaflosen Spezies Mensch zu gehören, sondern auch noch Wunder vollbringen zu können. Meinem Bild nach brauchte er nur sanft über den Einband einer Monographie zu streicheln, mit den Fingern einige Seiten zu streifen - und schon sprang ihn der Inhalt des Buches geradezu liebestoll an. Saugte sich rezitierfertig an seiner Großhirnrinde fest. Ob es eine solche schlaflose und Wunder vollbringende Spezies Mensch wirklich gibt, weiß ich bis heute nicht. Auch nicht, ob sie sich bevorzugt an deutschen Universitäten herumtreibt. Jedenfalls haben meine mystisch aufgeladenen Professoren-Bilder aus den ersten Semestern wieder Bodenhaftung unter den Füßen.

Bald stellte ich auch die Methode des Schnell-Lesens ein und begann, mich irgendwie´ durch die Bücher zu schlagen. Nebenher las ich in rauher Anzahl Lektüre über das wissenschaftliche Arbeiten, probierte diverse Unterstreichungstechniken aus, versuchte mich mit Bleistift-Kringeln um zentrale Begriffe, an die Seite geschmierten Fragen an jedem Absatz, pedantischem Herausschreiben, etc. Irgendwie´ kriegte ich die zentralen Aussagen der Textberge - zumindest für einige Zeit - in meinen Schädel hinein. Irgendwie´ verschwand auch das Unbehagen, Bücher nur noch als Nachschlagewerke zu benutzen und ihnen dabei das Unrecht` anzutun, sie nicht von vorne bis hinten durchzuackern. Es ging seinen Gang mit dem Lesen.

Langsam schliff sich durch viel Rumprobieren eine bestimmte Form des Lesens bei mir ein. Zunächst sichte ich das Inhaltsverzeichnis, lasse mich von Titel und Untertitel des Buches zu Assoziationen über seinen möglichen Inhalt mitreißen und versuche, den Autor in die mir bekannten Theorieströmungen einzuordnen. Die relevant erscheinenden Kapitel lese ich mit Tempo durch - sodaß ich gerade noch mitbekomme, worüber der Autor schreibt - und streiche am Rand die interessant scheinenden Stellen an. In der Theorie wird diese Methode das Rationelle´ Lesen genannt. Mit einem Stift ticke ich 2-3 mal pro Zeile knapp unter ein Wort. Ich folge dem Stift mit den Augen, erfasse so mit einem Blick bis zu 4 Wörter. So kann ich mein Lesetempo beschleunigen, denn die Augen hangeln sich in der Form von kurzen Sprüngen durch eine Zeile. In diesem ersten Durchgang geht es noch nicht um das Verstehen, sondern nur um das Herausfinden der Passagen, die ich gerne verstehen und deshalb nochmals richtig´ lesen möchte. Dabei den Impuls des sofortigen Verstehenwollens dem `Scannen´ unterzuordnen, stellt für mich den schwierigsten Teil dieser Übung dar.

Beim zweiten Lesen des Textes gehe ich dann die angestrichenen Passagen nochmals durch und bemühe mich zu verstehen, was der Autor sagt. Ich unterstreiche jetzt die relevanten Stellen, wiederum eine Auswahl aus der beim ersten Lesen gewonnenen und am Rand des Textes markierten Vorauswahl. Dabei markiere ich auch Definitionen, sehr wichtige Passagen, schöne Formulierungen und unklare Passagen mit entsprechenden Symbolen am Rand.

In einem dritten Gang durch den Text exzerpiere ich. Jedoch hat diese Würdigung nicht jeder Text verdient. Nur die sehr guten, die extrem schlechten Texte (zwecks Verriß oder Abgrenzung) oder bestimmte Seminartexte genießen dieses Privileg. Exzerpieren heißt für mich, den Text wirklich verstehen, den Thesen des Autors und der Struktur der Argumentation auf den Grund gehen zu wollen. Beim Exzerpieren versuche ich, die grundlegende Fragestellung eines Textes herauszudestillieren und in meine Worte zu kleiden sowie die unterstrichenen Passagen aus dem Text mit eigenen Worten wiederzugeben und dabei zu verdichten.

Was sich mit diesem Leseverfahren jedoch langsam zum Problem entwickelte, waren die unzähligen Zettel, die ich beschrieb. Exzerpte, aber auch Mitschriften aus Vorlesungen, Notizen aus Seminaren, Gedanken für Hausarbeiten und Thesenpapiere. Alle diese Blätter wurden mit der Zeit in großen Aktenordnern abgeheftet und verschwanden dort auf Nimmerwiedersehen. Einige wanderten sofort in die Tonne. Die Suche nach dem `richtigen´ Lesen wurde von der Suche nach dem ´richtigen´ Aufschreiben ergänzt.

Wieder steht das Bild eines Professors vor mir. Diesmal ein etwas bekannterer, der "Meister aus Bielefeld" persönlich. Ein reales Bild, wie er vor seinem gigantischen Zettelkasten daheim hockt und schelmisch grinst. Zugegeben hat auch dieses Bild seine mystischen Qualitäten. Doch die Lektüre von Luhmanns Texten öffnet den Blick auch auf seine Arbeitsmethoden. Die Struktur seiner Texte spiegelt die Verknüpfungen in seinem Zettelkastens wieder. Die Verbindungen in seinem Zettelkasten sind Teil seiner Aufschreibmethode, mit der er Texte auf seine eigene Schreibe zuschneidet.

Der Zufall wollte, daß genau zu dieser Zeit an meinem Institut ein Projekttutorium zum Erstellen von analogen und digitalen Zettelkästen angeboten wurde. Im Rahmen dieser Veranstaltung lasen wir Luhmanns Kommunikation mit Zettelkästen, ein Aha-Erlebnis für die Organisation meines Aufschreibens. In bescheidener Anlehung an das Bielefelder Muster begann ich, Mitschriften, Exzerpte und Gedanken nicht mehr in die berühmten DIN-A4-Notizblöcke hineinzuschreiben, sondern auf Karteikarten oder halbierte DIN-A4-Seiten zu notieren. Jeder Zettel wird fortlaufend nummeriert ohne spezifisches Ordnungssystem. Bei Exzerpten notiere ich zusätzlich Autor und Seitenzahl, um auch später noch zu wissen, woher ein Zitat oder meine Zusammenfassung stammt.

Wohin nun mit den ganzen Zetteln? Ich habe mir drei Karteikästen zugelegt, einen für DIN-A5-, zwei für DIN-A7-Format. Nun kann ich die gesammelten Zettel in den großen Kasten werfen. Dort stehen sie dann säuberlich hintereinander. Nun kann ich aber, wenn ich abends beim zweiten Bier sitze, diese Zettel verschlagworten. Ein Beispiel: Auf den Zetteln 1 - 85 sowie 145-147 beschäftige ich mich mit dem Thema Utopie´, also schreibe ich diesen Begriff und die Nummern der entsprechenden Zettel auf ein kleines Kärtchen und stecke dieses in einen der beiden kleineren Karteikästen. Von diesem kleinen Kasten aus wird also der große Kasten über systematische Schlagworte angesteuert. Sollte ich bei einer zukünftigen Hausarbeit zufällig Informationen zu diesem Thema brauchen, dann kann ich ohne große Sucherei erstmal nachschauen, was ich zum Utopiebegriff schon exzerpiert, gedacht oder mitgeschrieben habe. Ohne direkt in den (nach Semestern geordneten) Aktenordnern rumwühlen oder auf Literatur aus der Bibliothek zurückgreifen zu müssen. Finde ich eine weitere spannende Utopiedefinition, so wird auch diese exzerpiert und mit einer Nummer in dem Kasten abgestellt. Ein kurzer Nummerneintrag auf der Utopie-Karte´, und schon ist die neue Information abrufbar. Mit der Zeit entwickelt sich dann ein Netz von Verknüpfungen. Denn jeder neue Zettel kann prinzipiell von mehreren Schlagwörten angesteuert werden: Ich suche etwas zu Utopie, lande dann aber bei einem Zettel, der ebenfalls Informationen zu `Gesellschaftskritik´ führt. Zumindest schonmal ein Hinweis, daß beide Begriffe etwas miteinander zu tun haben könnten.

Eine weitere (fortgeschrittenere) Möglichkeit ist, auf den großen Zetteln selbst schon Verweise auf alte Zettel, die schon festinstalliert im Kasten stehen, anzubringen. Ich kann zum Beispiel auf einem Zettel zu Stuart Halls Identitätsbegriff einen Verweis auf Zettel zu Foucaults Diskursanalyse anbringen. An die entsprechende Passage auf dem Hall´-Zettel notiere ich die Nummer des passenden Foucault´-Zettels. Natürlich kann ich bei Bedarf die Zettel auch noch mit weiteren (detaillierteren) Schlagwörtern ansteuern. Zum Beispiel die Karten 23 - 34 mit "Utopiebegriff Ernst Bloch" und die Karten 28 -30 mit "Marxismus".

Der dritte Kasten wird mit Kärtchen gefüllt, auf denen jeweils die genauen Literaturangaben inklusive Bibliothekssignaturen der von mir gelesenen Bücher Platz finden. Mit diesem dritten Kasten kann ich im Blick halten, welche Bücher ich während meiner Studienzeit in den Händen gehalten und genauer unter die Lupe genommen habe. Die Erinnerungen an derartige Begegnungen haben ja zumeist ein kurzes Verfallsdatum. Doch beim Durchforsten des Autoren´-Kastens kann ein kleiner Blick auf einen Autorenamen oft schon Wunder wirken, denn gerade an den Namen eines Autors sind oft die groben Umrisse seines Theoriegebäudes angelagert. Mein Hirn kann sich zum Beispiel nicht direkt die Grundzüge der Habitustheorie merken, jedoch über den Umweg mit dem Namen Bourdieu klingelt es dann doch. Daneben kann ich den dritten Autoren´-Kasten über die Begriffe in meinem zweiten Kasten ansteuern. Auf der Karte mit dem Schlagwort wird neben den Nummern meiner Zettel auch die von mir zu diesem Thema gelesenen Autoren vermerkt. Im Falle des Begriffs Utopie´ sind das unter anderen Richard Saage und Ernst Bloch. Beide brauche ich nur mit Namen auf der Karte Utopie´ zu notieren, für genauere Literaturangaben kann dann im dritten Kasten, dem Verzeichnis der von mir gelesenen Autoren, nachgeschlagen werden. So kann ich auch gesichtete Bücher, die ich spannend finde, aber jetzt noch nicht weiter ausschlachten will, schon mal verschlagworten.

Der große Vorteil dieses Zettelkastenmodells nach Luhmann liegt darin, daß meine Notizen, Exzerpte und Gedanken mit dieser Methode nicht im Nirwana verschwinden, wenn ich eine Hausarbeit abschließe und zum nächsten Thema voranschreite. Das ist besonders im Hinblick auf mögliche Examensarbeiten hilfreich. Ich kann alle Notizen, auch eben auf ein Papier geschmierte, in diesen Kasten einarbeiten und muß mich nicht extra vor den Computer setzen. Greifbare´ Zettel erleichtern mir das Ordnen von Informationen und das Lesen, Vorgänge die bei der Arbeit vor dem Monitor schwerer fallen. Die Steuereinheit meines Zettelkastens sind Begriffe und nicht Autoren. Über von mir vergebene systematische Begriffe kann ich alte Informationen reaktivieren, über meine Begriffe finde ich bestimmte Autoren. Das mag sinnvoll für Kultur- und Sozialwissenschaftler sein. Sprach- und Literaturwissenschaftler sollten von Autorennamen aus arbeiten. Als Beispiel: ausgehend von dem Namen Max Frisch´ bestimmte Begriffe ansteuern. Notizen auf Autoren hin verschlagworten.

Einen immensen Nachteil stellt natürlich die analoge´ Bauart des Zettelkastens dar (*1). Er braucht relativ viel Platz (im Vergleich zu einem Laptop). Auch kann ich die gesamten Notizen im großen Kasten nicht mal eben auf einen neuen Begriff hin untersuchen lassen (wie einen Text in Word mit der Funktion Finde´), sondern kann nur von meinen schon angelegten Schlagwörtern ausgehend suchen. Die Verknüpfung eines neuen Begriffs ist bei wachsendem Umfang des großen´ Kastens enorm zeitaufwendig. Denn dann muß ich gucken, ob dieser neue Begriff nicht auch schon auf alten Zetteln zu finden und diese sinnvollerweise dann ebenfalls anzusteuern sind. Ich habe zum Beispiel einen Aufsatz von Klaus Eder zum klassenspezifischen Begriff von politischer Kultur gelesen und exzerpiert. Ich verschlagworte ihn jetzt unter den Begriffen politische Kultur´, Klasse´, soziale Ungleichheit´ und Sozialstruktur´. Auf allen vier Karten sind jetzt die Nummern der Exzerpte und Notizen (355-372) einzutragen sowie der Verweis auf Klaus Eder. Hatte ich zuvor den Begriff politische Kultur´ nicht in meinem Begriffskasten, dann liegt es nahe, auch alte Zettel, die Informationen zu politischer Kultur enthalten könnten, ausfindig zu machen und auch diese Zettel auf der neuen Karteikarte zu politischer Kultur zu verzeichnen.

Gelesenes verarbeite ich seit nunmehr 8 Monaten auf diese Art und Weise. Zur Zeit fahre ich ganz gut mit diesen Methoden des Lesens und Aufschreibens. Die Organisation des Zettelkastens hinkt der Produktion von Zetteln aber noch hinterher. Da es sich bei dem bislang verarbeiteten Material um relativ junges handelt, habe ich den Zettelkasten bis jetzt noch kaum in Anspruch nehmen müssen, überraschende Verknüpfungen konnten sich noch kaum ergeben. Mal gucken, ob sich dieses Modell zur Bekämpfung von vergeudeten Mitschriften und Exzerpten über längere Zeit hinweg lohnt. Über die Jahre soll sich - glaubt man zumindest Luhmann - eine eigenständige Kommunikation mit dem liebgewonnenen, zettelfressenden Zeitgenossen entwickeln. Denn mit der Zeit vergesse ich die Verweise, die ich von einem Zettel auf den nächsten gemacht habe, um Zusammenhänge zu markieren. Und plötzlich taucht dann beim Befragen des Zettelkastens zu einem bestimmten Begriff ein nie erwarteter Verweis auf ein völlig anderes Begriffsfeld auf. Eine Querverbindung tut sich auf, auf die ich alleine durch gedankliches Schwitzen niemals gekommen wäre. Und auch wenn diese eigenwillige Form der Kommunikation mit meinem Zettelkasten niemals eintreten sollte, es ist zumindest ein nettes Bild, das Mut macht. Es läßt darauf spekulieren, daß diese ganze Plackerei mit dem Lesen und Aufschreiben auch eine längere Halbwertszeit der ganzen Zettel - über die nächste Hausarbeit hinaus - mit sich bringt.

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(*1) Genauere Informationen zur Arbeit mit `digitalen´ Zettelkästen sind auf der Homepage http://infosoc.uni-koeln.de/~krajewsk/recherche.html von Markus Krajewski zu finden.

Er arbeitet z.Z an einem solchen Programm in Java für den PC. Dirk Baecker, Professor in Witten-Herdecke, hat Luhmanns Zettelkasten mit Hypercard für MacIntosh nachgebaut. Dieses Programm ist als Shareware bei ihm zu erhalten, auch dazu nähere Infos bei Markus Krajewski.

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