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Die Realität der Massenmedien

Die Realität der Massenmedien

Gespräch mit Niklas Luhmann auf RB 2

09.10.1997

H: Ihr Buch „Realität der Massenmedien“, beziehungsweise die beiden Vorträge, die das sind - erste Auflage; zweite Auflage, leicht variiert -, sind die erste größere Äußerung von Ihnen über diese so wichtige Einrichtung oder Institution oder eben Systeme der Massenmedien, von denen Sie ganz schlicht und ergreifend sagen: Die Realität der Massenmedien ist die, daß sie die Realität jedenfalls nicht abbilden.

L: Hm.

H: Sondern wenn, dann ...

L: Konstruieren, würde ich sagen.

H: Konstruieren sie sie?

L: Aber es gibt keine dahinterliegende Realität, die für Kommunikation faßbar wäre.

H: Daß alles, was die Massenmedien abbilden, selbstbezügliche Bilder sind, die noch verständlich sind, wenn man sozusagen die Massenmedien kennt.

L: Das ist eine Übertragung der Konstruktivismusthese aus dem üblichen epistemologischen oder Wissenschaftsbereich in die Theorie der Massenmedien.

H: Ja. Was aber auch bedeutet, daß die Selbstbehauptung der Massenmedien, nämlich, daß sie ja detailgetreu, genau, präzise sagen, was in der Welt vorgeht und sozusagen sich selbst nur als Mittler zurücknehmen und sagen : Wir sind das nicht, das sind die Bilder der Außenwelt, die ihr jetzt seht ...

L: Ja.

H: ... daß genau diese Selbstbehauptung der Massenmedien von Ihnen sehr stark in Zweifel gezogen wird.

L: Ja, es ist ein Aspekt des Systems, daß es eine Selbstbeschreibung anbietet und sagt: 'Wir haben gründlich recherchiert' und so weiter - also im Bereich der Nachrichten. Es gibt ja Unterhaltung und alles andere auch noch, aber im Bereich der Nachrichten und Berichte... 'Das ist also zuverlässig, so wie wir sagen, so ist es auch.' Das gehört aber zu den Selbstbeschreibungen des Systems, und für die Soziologie ist das immer eine Frage, wie weit man dem folgen kann, oder wie weit man die Selbstbeschreibung dem System selbst zurechnen muß.

H: Na ja, aber die Redakteure der Tagesschau werden Ihnen erwidern: 'Verehrter Herr Luhmann, also das ist ein Filmbericht eines Korrespondenten über die Vorgänge in Israel, und dieser Korrespondent ist mit den Vorgängen vertraut wie man vertrauter nicht sein kann. Er hat uns diese Bilder und diese Zusammenstellung der Bilder geliefert. So ist das da. Das ist nicht unsere Selbstbeschreibung.' Was würden Sie erwidern?

L: Ich würde sagen, genau das ist die Selbstbeschreibung, daß man behauptet, es sei keine, oder anders gesagt, daß man den Realitätswert der eigenen Kommunikation behauptet, unterstellt, auch in gewissem Umfang kontrolliert. Also man will keinen falschen Hitlertagebüchern aufsitzen und so etwas, aber das allein erklärt ja den Effekt nicht. Daß man also die ganze Welt jetzt inzwischen aufgrund der Beschreibung der Massenmedien kennt oder zur Kenntnis nimmt.

H: Sie haben ja die These sogar noch umgedreht und haben..., erster Satz, glaube ich, zweite Auflage: Die Welt, die wir kennen, kennen wir durch die Massenmedien.

L: Ja, ja.

H: Das heißt, Sie behaupten ja, wir kennen gar keine Welt - es sei denn durch die Massenmedien.

L: Ja. Im großen und ganzen schon. Ich meine, natürlich bleibt ausgenommen, daß ich weiß, ob ich meine Blumen begossen habe oder nicht. Das kann ich ja nicht im Fernsehen oder in den Zeitungen lesen. Also, es gibt so eine Nahwelt, die sich verfranst mit dem, was man dann über die Massenmedien kennt. Aber wenn man den Weltbegriff wirklich als Universum nimmt, ist das, glaube ich, richtig. Sie haben alles gelesen oder gehört, und dabei ist das, was die Nachbarin erzählt, von geringerer Bedeutung im Verhältnis zu dem, was das Fernsehen oder die Zeitungen berichten.

H: Aber Sie behaupten, es ist von gleicher Qualität, denn die Nachbarin beschreibt ja auch sozusagen immer mehr sich selbst ...

L: Ja, ja.

H: .. wenn sie über andere redet, als die anderen, die sie beschreibt.

L: Ja, ja, sicher. Das ist ein prinzipieller Konstruktivismus.

H: Ja, das mag ja sein, aber ich will mal auf die Bedeutung dieses prinzipiellen Konstruktivismus für die Arbeit in den Medien hinaus und für die Bedeutung der Medien, denn es relativiert die Bedeutung der Medien ja an dem Punkt, daß man die Selbstbeschreibung, Selbstbehauptung oder unausgesprochenen Behauptungen innerhalb der Medien, sie würden nämlich die Wahrheit berichten, prinzipiell mißtrauen muß.

L: Ja. Ich meine, die Frage ist, was jetzt mit Wahrheit gemeint sein kann, aber die..., daß es keine wissenschaftliche Wahrheit ist, die also auf Unsicherheit, auf Zukunft, auf „was fehlt uns noch“ und so etwas bezogen ist, ist klar. Und daß wir die Realität, so wie sie wirklich ist, wenn es so etwas überhaupt gibt, nicht in die Kommunikation einbauen können, weil das immer eine Auswahl erfordert, das ist auch klar. Insofern: der Einwand vermißt etwas, was es nicht geben kann aus meiner Sicht, nämlich eine direkte Übernahme von Realität, was immer das ist, in Kommunikation.

H: Ja, aber genau das. .. - Gut, Sie sagen, wissenschaftlich ist es sowieso eher zweifelhaft, ob es so etwas wie Realität gibt. Andererseits sind die Massenmedien genau diejenigen, die den Menschen, seitdem es sie gibt, nicht suggerieren, sondern offen sagen: Seht, hier ist die Welt, so ist es! Das heißt, daß sie genau das Gegenteil von dem tun, was Sie sagen, daß sie sind. Sie behaupten, die Massenmedien, ob jede Tagesschau, jede Fernseh-, jede Newsshow - bleiben wir bei den Nachrichten, wir können auch gleich über Unterhaltung gerne reden - alles, was wir bringen, ist wahr. Dieser Wahrheitsgehalt wird bestätigt, und sozusagen unterschrieben durch die Bilder, gerade in Fernsehen: „Ich habe das gesehen, das ist da so in Los Angeles, und da waren die Schwarzen, und die haben auf den Weißen geprügelt, und da waren die Unruhen.“ Und Sie sagen: „Ob das alles wirklich so war, weiß ich nicht“.

L: Die eigentliche Frage des Konstruktivismus ist ja letztlich nicht so eine punktuelle, stimmt es oder stimmt es nicht, so eine Frage, wo wollen wir etwas unterscheiden, was ist eigentlich der Kontext, in dem irgendwas profiliert wird. Und da glaube ich..., ist, wenn es um Rassenunruhen geht, ist es völlig klar: Man könnte in Los Angeles ja ganz andere Sachen sehen als Rassenunruhen und könnte technische Wunderleistungen oder was immer oder die Verkehrsströme oder das Klima oder was immer beobachten, und die Hintergrundthese ist, daß also alles, was wir beobachten, bezeichnen, beschreiben, immer über Unterscheidung läuft. Es gibt immer eine andere Seite, die nicht berichtet wird.

H: Und deswegen schon ist der Wahrheitsanspruch falsch.

L: Ja, wenn man ein traditionelles Verständnis zugrunde legt, eine Korrespondenztheorie oder so etwas hat. Aber wenn man generell konstruktivistisch denkt..., es kann nur so laufen, und was von Wahrheit verlangt werden kann, ist eigentlich je nach dem System verschieden. Also in der Wissenschaft wäre das etwas anderes.

H: Darf ich nun... Eine Seitenfrage: Würden Sie den Zuschauern empfehlen, das konstruktivistische Denken zu lernen, oder ist Ihnen das vergleichsweise egal, daß jedenfalls 98% aller Zuschauer mit Sicherheit annehmen würden, was da passiert, das ist so, und den Einwand aus der soziologischen Theorie oder den Einwand, den wir hier formulieren, überhaupt nicht kennen.

L: Ja, ich meine, das ist wahrscheinlich... Ohne diesen Resonanzboden würde es gar keine Massenmedien geben. Man würde das ja auch gar nicht anstellen oder lesen, wenn man nicht annähme, es sei so. Also man würde als Mitwirkung an der Kommunikation der Massenmedien das eigene Bewußtsein nicht zur Verfügung stellen, wenn man annehmen würde, es sei also zusammenphantasiert oder was immer.

H: Aber genau das - nicht zusammenphantasiert. aber zusammenkonstruiert -, ist Ihre These, und ich bemerke (das hat auch jemand anders schon, der Sie interviewt hat, bemerkt), Sie haben gar keinen Fernseher. Sie kommen also gar nicht in die Verlegenheit, an dieser Kommunikation teilzunehmen.

L: Außer im Hotel.

H: Außer im Hotel. Da tun Sie es wahrscheinlich also extensiv.

L: Vor allem im Ausland, um die Sprache..., um in den Sprachduktus reinzukommen.

H: Worauf ich hinaus will, ist: Es gibt da noch einen gehörigen Unterschied zwischen der Theorie der Massenmedien und dem, was ihr unausgesprochenes, und oft auch ausgesprochenes Selbstverständnis ist. Die Theorie ist: Hier handelt es sich um ein im konstruktivistischen Sinne selbstreferentielles System, das heißt, da ist fast alles selbstbezüglich. Und ich kann das als Medienmacher auch vollkommen unterschreiben. Ich weiß sogar, wie es von den Mechanismen her funktioniert, während die Zuschauer glauben, jeder Augenblick, der mir dort gestaltet wird, repräsentiert die Wirklichkeit. Und ich halte das für einen Gegensatz. Ich halte das für einen Unterschied mit Folgen. Denn wenn man den Massenmedien sozusagen glaubt und nicht in sich sozusagen den Abstand erarbeitet, der dazu gehört, sie zu rezipieren, dann ist das ein anderes Verhalten als das Verhalten, das die Theorie macht.

L: Ja, ich meine, die Theorie reflektiert den Konstruktivismus sozusagen, daß es eine Konstruktion ist, und sagt aber zugleich, daß das nur funktioniert, wenn man das nicht ständig reflektiert. Daß man also natürlich, wenn man Zeitung liest, annimmt, das, was da steht, stimmt oder allenfalls den Ausschnitt oder etwas anderes etwas mehr beleuchtet haben möchte...

H: Finden Sie das nicht schrecklich? Finden Sie diese Art der offensichtlich notwendigen Konstruktion von kommunikativen Systemen nicht schrecklich?

L: Nein. Wenn ich sehe, daß es gar keine andere Möglichkeit gibt, Welt wahrzunehmen, als über Berichte, die immer etwas beleuchten, etwas unbeleuchtet lassen, immer ein“ marked“ und ein „unmarked space“ erzeugen...

H: ... und diese Unterscheidung gleichzeitig verdecken, beides, ...

L: Ja, ja, klar.

H: ... also erstens selektieren und zweitens die Selektion verdecken.

L: Ja klar. Man kann eine Entscheidung nicht reflektieren, außer wenn man sie von einer anderen Unterscheidung unterscheidet. Aber was ist das Problem? Ich meine, daß man, wenn man das realisiert, deswegen keine Zeitung mehr lesen würde, ist ja doch unwahrscheinlich.

H: Wenn man lange genug darüber nachdenkt, könnte man aufhören, Zeitung zu lesen.

L: Ja, dann würde man an der Welt nicht mehr teilnehmen, die durch die Zeitung konstruiert wird.

H: Dann frage ich Sie, warum haben Sie keinen Fernseher?

L: Weil in den wenigen Momenten, wo ich Zeit habe, nie irgendwas kommt, was mich interessiert.

H: Es gibt also kein prinzipiellen Ausschlußgrund ...

L: Nein, nein.

H:.. diesem Medium gegenüber?

L: Nein, ich meine, es ist nur... Was nachteilig ist, ist, daß es alles sequentiell läuft. Wenn man also irgendwo in eine Sequenz einsteigt und irgendwann wieder abschaltet, während man bei Zeitungen ja sich raussuchen kann: ich lese jetzt nur noch die Börsennachrichten und ich lese Sport auf keinen Fall, aber vielleicht so Firmennachrichten aus der Wirtschaft, oder ich lese Politiknachrichten, aber nicht das, was in den Parteien vor sich geht usw. Man kann dann also sich Schwerpunkte wählen und auch den Zeitpunkt bestimmen, in dem man etwas liest. Das ist eine sehr persönliche Teilnahme an Kommunikation entgegen allem, was man von Massenmedien hört. Man wählt sehr persönlich aus, den Zeitpunkt, den Ausschnitt usw., und das ist nicht vorgegeben durch die Drucktechnik. Aber es ändert nichts daran, daß man, was immer man auswählt, man wieder in die Konstruktion einer Welt hineingesogen wird.

H: Welche Funktion hat Unterhaltung da?

L: Also, ich will zunächst mal die Form der Unterhaltung beschreiben. Es geht um eine Auflösung einer selbsterzeugten Ungewißheit oder Spannung. Eine Quizsendung: Was werden die jetzt sagen, wer kommt auf das Richtige? Oder ein Roman: Wie geht es weiter, und die Technik des Romans ist ja wesentlich die, daß man die Auflösung von Ungewißheit mit den Mitteln erzeugen muß, die vorher schon im Roman gegeben waren, daß man also eine rekursive Schleife ziehen muß: Aha, deswegen ist es so und so gekommen und ...

H: Das ist aber... Im Fernsehen werden ja wenig Romane dargestellt.

L: Ja.

H: Es ist voll von patterns, voll von Typen, von, wenn Sie so wollen, Kurzromanen...

L: Ja, ja.

H: ... in Form von Gestalten, die sich irgendwie bewegen; sehr viel Sensation, sehr viel Gewalt, sehr viel Action ...

L: Da ist alles sehr viel kurzfristiger, aber auch da kommt man, glaube ich, nicht um die Erzeugung und Auflösung von Ungewißheit herum.

H: Das ist sozusagen der Grundmaßstab von Unterhaltung.

L: Ja, für mich.

H: Es geht jetzt auch um die theoretische Frage, warum Massenmedien so elementar auf Unterhaltung basieren. Wenn es die nicht gäbe, gäbe es die nämlich auch nicht.

L: Ja.

H: Weil... Das Programm ist voll von allen möglichen Unterhaltungsformen, und nachrichtliche Dinge, die wir vorhin diskutiert haben, die also wenigstens behaupten, die Welt abzubilden, obwohl sie es nicht tun oder nur selektiv tun, sind ja eh marginal für den Zuschauer. Der Zuschauer rezipiert sowieso eine fiktive Welt der Unterhaltungsform.

L: Ja, ich weiß nicht, ob ich das so radikal ausdrücken würde. Denn dann könnte er von vornherein auf den Unterhaltungssektor, der dazu bestimmt ist, dies zu tun, sich beschränken. Ich weiß nicht... Wenn man die Börsennachrichten jeden Tag liest und sieht, daß die Bauaktien sinken und die Chemie steigt und so etwas, ist es ja auch eine Information über die Welt. Wir bauen, wir bauen zu viel Bürohäuser im Moment, Philip Holzmann und so, nicht? Und das ... Ich meine, es gibt eine Befriedigung, die dann eintritt, wenn man merkt, daß man jetzt weiß, daß das geschieht. Aber ...

H: Sie sagen, Auflösung, also Konstruktion und Auflösung von Ungewißheitsprozessen? Was ist mit den ganzen unbewußten Motiven, die in der Rezeption technischer Medien eine Rolle spielen? Würden Sie die völlig ausschließen? Ich meine damit das, was man subkutane Wirkung nennt, allein die Tatsache aufeinander folgender Bilder, von denen man gar nicht sagen kann und auch der Zuschauer gar nicht sagen will, was da passiert, sondern er setzt sich sozusagen einem wie immer gearteten Datenfluß oder Bilderfluß oder Wechselfluß aus, sitzt einfach nur da und zappt. Das ist ja inzwischen... 80% aller Filme, die im Fernsehen gezeigt werden, werden unterbrochen vom Zuschauer, dadurch, daß er auf andere Programme wechselt. Das heißt also... Das permanente Wechseln von Programmen zum Beispiel, das fällt mir schwer nach dem Muster von Auflösung, Konstruktionsauflösung von Ungewißheit zu verstehen.

L: Ja, man will sozusagen in ein anderes Schema überwechseln, um dann dasselbe wieder zu haben, also eine Ungewißheit: wie geht es weiter?, und die Auflösung: es geht so weiter. Aber ich will das ja auch nicht zu hoch hängen, also das ist speziell für mich eine Definition von Unterhaltung, aber es gibt ja andere Interessen, auch Nachrichteninteressen oder Werbungssachen.

H: Warum wird Werbung in diesem Maße zum Anker auf dem Tisch? Zumindest der elektronischen Massenmedien.

L: Ja, das ist ein Markt, ein Markt, der seine eigenen Produkte sozusagen erzeugt, und es gibt viele Firmen, die glauben, über Werbung ihren Absatz beflügeln zu können.

H: ... haben auch sicher einige Nachweise dafür.

L: Ja, obwohl ich nicht weiß, ob ein Auto, jedes Auto 500 Mark teurer sein muß, bloß weil dafür geworben wird.

H: Möglicherweise doch.

L: Ja. Gut. Aber ich selbst wüßte ja nicht... Ich meine, ich kaufe das Auto bei der Firma, die am nächsten zu meinem Wohnhaus ihre Werkstatt hat. Und was immer das für ein Auto nachher ist. Ich weiß eben nicht, ob man alles auf Unterhaltung, auf diesen Sektor Unterhaltung beziehen kann. Werbung dient ja auch viel der Forderung von Geschmack. Man ist von Hause aus ohne Geschmack, und infolgedessen muß man sehen, was ..., welche Art Handtaschen die Damen heute tragen, wie die Scheinwerfer in Autos rund oder eckig sein müssen.

H: Das alles ist ja ein Stück Ausdifferenzierung von Kommunikation.

L: Ja.

H: Auf die Frage der unbewußten Anteile dieser Strukturen haben Sie mir noch nicht geantwortet.

L: Nein, das ist für mich ein rein psychologisches Phänomen. Also daß man nicht eingestehbare Motive haben kann, Fernsehen zu sehen, bloß weil man nicht weiß, was man sonst mit dem Abend anfangen wollte oder das mag ja sein, versickert aber im Psychologischen und dieses ...

H: Was ist, wenn das die halbe Gesellschaft tut? Ist das dann immer noch irrelevant, versickernd im Psychologischen?

L: Ja.

H: Wenn die halbe Gesellschaft sich sediert, nehmen wir das an, indem sie sozusagen jeden Abend drei Stunden - zur Hälfte oder vielleicht die ganze - am Fernseher verschwindet, dann würden Sie das für gesellschaftsstrukturell irrelevant halten?

L: Nein, der Effekt nicht, aber die Ursache, die unbewußten Motive, das zu tun, die man vielleicht auch wiederum mit gesellschaftstheoretischen Analysen aufklären könnte, aber da sehe ich keine direkte gesellschaftliche, kein gesellschaftliches Korrelat, wenn das als unbewußt schon etikettiert ist.

H: Ich weiß es ja nicht.

L: Nein, nein.

H: Wir beide können es ja nicht wissen, aber es mag ja sein.

L: Ja. Aber das gilt ja für alles Verhalten. Ich meine, das gilt ja nicht nur für die Teilnahme an Massenkommunikation, sondern das gilt für jedes Verhalten, in intimen Beziehungen oder in der Arbeit, im Büro oder im Straßenverkehr.

H: Vielleicht doch nicht ganz, weil, Sie haben ja vorhin darauf hingewiesen, in Ihrer eigenen Wahrnehmung, daß gerade die Massenmedien diese unidirektionale Sequentialität... Das heißt also, man muß sozusagen immer zur richtigen..., also man muß denen folgen, also man kann nicht selber interagieren, aber im Straßenverkehr, in unserem Gespräch oder beim Zeitunglesen oder sonst haben Sie ja hunderte Eingriffsmöglichkeiten, den Unterhaltungskonsum oder was auch immer für eine kommunikative Form selber stärker zu strukturieren. Nur beim Fernsehen können Sie gar nichts tun, außer daß Sie vielleicht glauben, durch das Zappen von einem Kanal zum nächsten etwas strukturieren zu wollen, was aber ja nur eine Illusion ist...

L: Ja, ja.

H: ... denn Sie strukturieren nichts, sondern springen ja nur sozusagen auf mehrere Zeitachsen, ohne sie parallel zu kriegen. Insofern finde ich das schon einen Gedanken zu sagen: Hier ist eine ganz besondere Form. Weil Sie über Massenkommunikation ja geschrieben haben, sage ich das, und weil Ihre Grunddefinition ist, diese Massenkommunikation schließt sozusagen die Anwesenheit der Interaktion aus, das ist die Voraussetzung, sonst wäre es keine.

L: Ja. Aber was hat das mit unbewußten... Wenn es so etwas wie Unbewußtes gibt, läuft es ja überall mit, bei allen Aktivitäten, und mehr oder weniger relevant für die Auswahl von Handlungen, und da sehe ich nicht, weshalb das bei Massenmedien etwas anderes sein sollte. Abgesehen davon, daß es ja für die Gesellschaftstheorie... Also was nicht in die Kommunikation hineingegeben oder durch Kommunikation aufgeklärt werden könnte, hat ja eigentlich keine gesellschaftliche Existenz. Man kann Forschungen machen über unbewußte Motive; man kann also Forschung machen über das Gedächtnis, wenn also Schriftfolgen, Buchstabenfolgen kurz aufgeblendet werden, ganz kurz, daß man also nicht die Zeit hat, sie sich einzuprägen, hat es trotzdem einen Gedächtniseffekt.

H: Ja, das sind zum Beispiel die Punkte, die ich anspreche.

L: Ja, ja, und okay, wenn man das weiß, werden Werbekampagnen anders geplant werden als wenn man das nicht weiß.

H: Ich will jetzt ein Beispiel konstruieren, aber, um Sie zu fragen, nehmen wir an, es gäbe eine nachweisbare, aber nicht begründbare Korrelation zwischen einer bestimmten Art von Fernsehkonsum und der zunehmenden Neigung der Bevölkerung, die Todesstrafe wieder zu favorisieren.

L: Ja.

H: Dann hätten wir eine solche Rückkehr von einer unaufgeklärten Kommunikation, weil sie sich ja nicht artikuliert, zu einer sehr artikulierten Meinungsbildung. Ich weiß das nicht, ich frage nur, ob Ihre Theorie das einschließt, ausschließt, nahelegt oder überhaupt berührt.

L: Also zunächst mal würde ich tendenziell sagen, daß das Unbewußte, das Mitwirken von unbewußten Motiven, eine ganz individuelle Sache ist, und daß es schwer ist, das zu aggregieren auf einen Faktor, der bestimmte Effekte hat. Oder anders gesagt, wenn man wirklich solche Kausalrelationen zwischen Konsum von Gewaltaktivität im Fernsehen und Meinungen in der politischen Stellungnahme ... Wenn man das wirklich feststellt, braucht man eigentlich das Unbewußte dazu nicht, sondern man kann nur sagen, das korreliert. Also jemand, der Angstgefühle hat in Bezug auf das, was ihm passieren könnte, wenn er sieht, was im Fernsehen passiert, der wird soundso optieren im politischen, rechtlichen Bereich.

H: Aber gerade im Medien- und damit kommunikationspolitischen Bereich finden ja Regelungen statt. Nach Ihrer Theorie der Massenkommunikation sind gesellschaftliche Regulierungen der Massenkommunikation eigentlich auszuschließen, weil, das ist ein sich selbst regelndes System. Oder habe ich das falsch verstanden?

L: Nein, das würde ich ... Ich meine, das bezieht sich ja nicht auf Kausalitäten, das mag ja sehr wohl sein, daß man in ein sich selbst regulierendes System über Recht und Politik Einwirkungen einschleust, das will ich damit nicht ausschließen. Nur, wenn diese Antworten berücksichtigt werden, dann wieder nur in der Weise der Operation von Massenkommunikation, nicht? Und es ist eine operative und keine kausale Schließung. Aber die Frage ist eigentlich wieder eine politische Frage, letztlich, oder eine rechtliche, verfassungsrechtliche Frage: Wie weit kann man Eingriffe ...

H: Ich meine was ganz Simples: Helmut Schmidt, uns noch bekannt als Ex-Bundeskanzler, hatte mal gefordert, sonntags gibt es kein Fernsehen. Das ist eine politische Frage zu der man sich ja theoretisch verhalten können sollte. Also eine Theorie der Gesellschaft sollte einen Ratschlag zumindest erteilen, das ist ein vernünftiger Rat oder eine vernünftige Forderung - egal jetzt, ob sie durchsetzbar ist oder nicht -, und dies ist eine unsinnige Forderung. Und die Frage an Luhmann ist, um es mal konkret zu machen, welche Mächtigkeit hat seine Theorie der Massenkommunikation in Bezug auf diese Idee von Helmut Schmidt?

L: Also es ändert an der Typik von Massenkommunikation ja nichts, wenn sie sonntags nicht stattfindet, zunächst einmal, nicht wahr? Also die, die Beschreibung der Massenkommunikation als technologisch einseitig usw. usw., würde auch dann gelten, wenn sonntags keine Fernsehsendungen stattfinden, und dann reduziert sich das Ganze auf ein politisches Problem: Ist das eine politisch erfolgreiche Losung sozusagen? Kann man damit Wähler gewinnen oder nicht, abgesehen davon, daß vielleicht verfassungsrechtliche Probleme auftreten könnten.

H: Kann Ihre Theorie niemals Aussagen darüber machen, welche Systeme, auch Teilsysteme der Gesellschaft gut für den Menschen sind und welche schlecht?

L: Den Menschen, welchen Menschen?

H: Die an diesem Teilsystem kommunikativ teilnehmen.

L: Nein, also ich wüßte nicht, wie ich Kriterien finden könnte, die mir sagen, was gut für den Menschen ist und was nicht gut für den Menschen ist. Da bin ich zu individualistisch orientiert. Für einen ist es gut, für den anderen ist es nicht gut, und das Ganze wird damit zurückgespielt auf eine Frage der Kommunikation nachher: Was ist durchsetzbar, was ist nicht durchsetzbar, wer hat die Folgen zu tragen? Aber ich habe... Ich meine, ich bin ja auch kein Psychologe, ich habe keine Vorstellung, wie man eine Theorie begründen könnte, die sagen würde: Fernsehkonsum ist aus diesen und diesen psychologischen Gründen ungesund oder was immer man da an negativen Urteilen formulieren kann.

H: Aber man könnte ja zum Beispiel sagen, das macht die Gesellschaft oder Teile der Gesellschaft lethargisch, untätig. Die Menschen setzen sich sozusagen nicht mit ihrer Umwelt auseinander, so wie es für die Gesellschaft gut wäre, oder, sagen wir nicht die Gesellschaft, sondern den Staat gut wäre, um es noch politischer zu prononcieren. Helmut Schmidt hat sich ja was dabei gedacht. Helmut Schmidt hat ja sozusagen dabei, wenn ich das richtig sehe, eine Art von Wachrüttelung im Auge gehabt, die irgendwie doch zum Ziel haben sollte, am Ende die Produktivität oder was auch immer, den Einfallsreichtum, die Kreativität, junger Menschen, älterer Menschen, von Familien wieder anzuregen, die, von der er glaubt - vermutet natürlich nur -, daß sie sozusagen im Dauerkonsum der Massenmedien untergeht. Das lassen wir dann lieber so, oder?

L: Ja, ich meine, ich habe jetzt das Problem verloren eigentlich. Für die Theorie der Massenmedien kann das ja eigentlich nichts bedeuten, nicht wahr?

H: Und damit? Sie haben vorhin gesagt, wenn die Massenmedien nicht konsumiert würden, würde es sie so nicht geben.

L: Ja.

H: Wenn man jetzt also politisch oder theoretisch mithelfe zu begründen, diese Kommunikation zu regeln, indem man nämlich ihr Aussetzungen verordnet oder was auch immer, dann würde man ihren Betrieb schon beeinträchtigen.

L: Ja, aber trotzdem nicht ihre Funktionsweise. Also ich meine, man würde dann sagen, es ist also... anstatt siebentägig nur sechstägig findet das statt, oder so, aber ...

H: Der nächste Schritt wäre dann nur fünftägig.

L: Ja.

H: Ich konstruiere jetzt.

L: Aber das würde, glaube ich, an der Analyse und an der Theorie nichts ändern, sondern höchstens... Erstmal natürlich wäre das eine Frage der politischen und rechtlichen Durchsetzbarkeit. Es würde an der Struktur von massenmedialer Kommunikation nichts ändern, sondern das nur zeitlich limitieren, und die Frage, wer denn letztlich ... Also vor allen Dingen eine politische, aber natürlich auch rechtliche ... Kann man das verbieten? Und es ist ... Also wenn man das kausal nimm, ist es absolut unklar, was damit erreicht werden kann. Vielleicht lesen die Leute dann mehr Bücher, oder so was, aber wozu soll man das nun fördern, wenn man gar nicht weiß, was für Bücher das sind.

H: Die Theorie der.. Um das abzuschließen: Die Theorie der Gesellschaft, die Sie entwickeln, ist also auch nicht dazu gemacht, Entwicklungen vorherzusagen.

L: Nicht als Theorie der Gesellschaft, aber ganz sektoral natürlich schon. Wenn man also etwa Globalisierung in der Wirtschaft nicht nur der Finanzmärkte, sondern auch der Produktmärkte ..., kann man natürlich sehen, daß das also bestimmte Änderungen in dem Management oder in der Produktionsorganisation erfordert, also Risikofragen tauchen auf, und ...

H: Gibt es diese Risikofragen auch bei dem Thema Massenkommunikation?

L: Was würde das Risiko sein? Was würde möglicherweise schief gehen?

H: Gut, fragen wir, was im globalen Maßstab Ihrer Meinung nach möglicherweise schief gehen könnte und wo Ihre Theorie da Vorhersagen anbietet.

L: Also es gibt Arten von Risiken im Bereich von Wirtschaft oder von Politik, die eigentlich mehr oder weniger bekannt sind, also beispielsweise die Isolierung, die internationale Isolierung, Zusammenbruch der Sowjetunion aus der Unfähigkeit, sich mit einer funktional differenzierten Gesellschaft auseinanderzusetzen. Also ein Fall, wo man sieht, was nicht geht oder mit Folgen belastet ist, die also zum politischen Kollaps führen können, natürlich in der Wirtschaft selbst. Aber auch in der Wissenschaft gibt es ja also Großprojekte, die ..., wo man nicht weiß, ob ein Erfolg möglich ist, und was die ökonomischen Konsequenzen sein würden. Also ich glaube, man kann sektoral im Bereiche einzelner Kommunikations-, Funktionssysteme schon von Risiken spezifischer Art sprechen. Im Bereich der Massenmedien weiß ich eigentlich nicht. Was könnte ein Schaden sein, der allein durch die Massenmedien verursacht wird?

H: Ich will ihn nicht konstruieren. Das war wirklich nur eine Frage, die sich wieder an das Theoriemodell letztlich wendet, das Sie verwenden.

L: Ja. Also Risiken sind für mich von Funktionssystem zu Funktionssystem sehr verschieden. Also ich wüßte nicht, was ein Risiko in der Kunst bedeuten würde - vielleicht, daß bestimmte Werke nicht gekauft werden oder bestimmte Galerien eingehen, aber das läge im ökonomischen Bereich. In der Religion kann man ja auch sich überlegen, was das Risiko einer zu liberalen, also in Parsons' Terms inflationistischen oder einer deflationistischen fundamentalistischen Religion wäre. Aber das würde ja denn in Anhängerzahlen oder in Zuwendung ausdrückbar sein. Aber bei den Massenmedien wüßte ich eigentlich nicht, was eine typische, spezifische Risikolage wäre, wenn man mal das Ökonomische ausblendet, das ist natürlich klar, oder auch das Politische, daß man also die Machthaber so erzürnt, daß sie verbieten - das ist ja weltweit durchaus gängig.

H: Welche gesellschaftliche Funktion messen Sie denn der Kunst zu in Bezug auf Ihr Theoriemodell?

L: Also, ich ...

H: Gibt es eine Realität, eine soziologische Realität der Kunst?

L: Ja. Ich denke, daß das vor allen Dingen darin liegt, daß der Bereich des nur Wahrnehmbaren für Kommunikation geöffnet wird, daß man also sehen kann: Das ist aus dem Grunde so und nicht anders, arrangiert in einem Bildwerk oder in einem Roman, also etwas, was man nicht verbal mitteilen kann, über Wahrnehmbarkeit mitteilt, also vor allen Dingen Ordnungsvorstellungen natürlich oder Einschränkungen der Beliebigkeit: Wenn ich mal so angefangen habe ein Gedicht oder ein Bild, dann muß ich entweder abbrechen und auslöschen, oder ich muß mich den Anforderungen fügen, mit jedem, was ich hinzu tue, eine neue Beschreibung dessen, was schon da ist, zu produzieren, also immer so spiralförmig zu arbeiten. Wenn man sieht, wie ein Maler... Also mit einem Strich fängt er an..., macht er einen großen Strich, und dann sieht er plötzlich, daß der Strich total überzogen ist, aber optisch von unten nach oben läuft, und was kann ich jetzt hinzutun, um das zu stärken oder ... Und die Möglichkeit, das sehen zu lernen, ist gesellschaftlich, also es ist ein gesellschaftliches Faktum, daß es das gibt. Ich meine, ob der einzelne daran Interesse hat, ist eine zweite Frage.

H: Lassen Sie uns zum Schluß, wenn wir schon nicht über die Frage der Massenkommunikation und ihrer Entwicklung eingeschränkt reden können, mal ganz global das Problem oder das Thema Evolution diskutieren. Sie haben ja auch in Ihrer eigenen Theorie durchaus die Schritte beschrieben, wie es zur Heranbildung dieser funktionalen Differenzierung oder von Gesellschaften kommt, die dieser funktionalen Differenzierung unterliegen, im Unterschied zu Gesellschaftsformationen vergangener Jahrhunderte. Läßt sich daraus eine evolutionäre Tendenz ableiten und wenn ja, wo ist Ihr „terminus ad quem“?

L: Also, das einzige, was mir dazu einfällt, sind sehr allgemeine Aussagen wie etwa, daß etwas an sich Unwahrscheinliches wahrscheinlich gemacht wird.

H: Also der physikalische Enthropiesatz, der zweite.

L: Ja. Also daß ich etwas kriegen kann, was anderen gehört, bloß weil ich bezahle, usw. Oder daß ein Regime bestimmte Verkehrsordnungen durchsetzen kann, obwohl alle Leute mit eigenen Köpfen und eigenen Autos fahren.

H: Weil es ist das Wahrscheinlichere, daß das eine neue Ordnung stiftet, und die jetzige Unordnung ist ...

L: Ja.

H: ... der Ausgangspunkt.

L: Es ist zunächst unwahrscheinlich, daß man überhaupt so etwas machen kann, Gurt anlegen, nicht. Also in Neapel würde das ja nicht klappen; und hier sieht man doch die meisten mit Gurt fahren. In Neapel gibt es T-Shirts, die sollen einen schwarzen Strich haben. Und da sehe ich also so eine Richtung, daß etwas Unwahrscheinliches wahrscheinlich gemacht wird. Also allein in der Kommunikation ... Ich meine, wie unwahrscheinlich ist es, daß irgendein bestimmter Satz gesprochen wird, wenn man die Möglichkeit, Sätze zu bilden, vor Augen hat, und wie wahrscheinlich ist es, daß man in einer bestimmten Sequenz von Unterhaltungen bestimmte Sätze oder bestimmte Redundanzen mitzieht und den anderen nicht völlig konsterniert dadurch, daß man immer irgendwas völlig Verblüffendes sagt. All das würde ich in Tendenz von Evolution ... Komplexität ist auch..., natürlich ...

H: Moment, die Tendenz von Evolution zusammengefaßt, ist die, daß ...

L: ... daß etwas ...

H: ... daß etwas Unwahrscheinlicheres ...

L: ... wahrscheinlich wird.

H: ... wahrscheinlich wird.

L: ... situativ, spezifisch wahrscheinlich wird. Es wird auch manchmal gesagt, daß Komplexität ... Aber da muß man natürlich sagen, daß neben den komplexeren Sachen immer auch die alten, die nicht komplexen Sachen überleben. Es gibt Salamander mit Schleuderzungen und solche ohne Schleuderzungen, und ...

H: Das heißt, Sie gehen von der Annahme aus, daß Komplexität zunehmen wird.

L: Daß es auch komplexere Arrangements geben wird; nicht, daß sie ein durchschlagender Überlebensvorteil ist, so daß alles andere verschwindet. Das ist ja auch also empirisch, in der biologischen Evolution einfach nicht zu belegen.

H: Aber was ist das Evolutionsmoment daran, daß etwas Unwahrscheinliches wahrscheinlicher wird?

L: Das ist ein Resultat von Evolution, und das hängt offensichtlich mit größerer Komplexität und größerer Spezifikation zusammen.

H: Wo kommt die Triebkraft dafür her?

L: Das passiert.

H. ... aus dem System?

L: Ja, irgendwas hält sich, was zufällig ..., was zufällig entstanden ist, hat eine hohe Reproduktionswahrscheinlichkeit bekommen. Also Evolution ist die Umformung von Entstehungsunwahrscheinlichkeit in Erhaltenswahrscheinlichkeit, wenn man es mal so ausdrücken will.

H: Das ist dann fast schon Naturgesetzlichkeit.

L: Ja.

H: Denn das gibt es parallel als zweiten Enthropiesatz, ich habe es vorhin gesagt, ...

L: Ja, ja, sicher, und ich denke auch, daß ...

H: Konvergiert da Menschengeschichte und Naturgeschichte?

L: Also, es ist mit demselben theoretischen Rahmen beschreibbar.

H: Ja, eben.

L: Ja, ja. Das denke ich schon, sonst würde..., sonst hätte es keinen Sinn, von Evolution zu sprechen, wenn man damit bestimmte theoretische Ambitionen verbindet.

H: Aber ist es nicht auch sozusagen eine menschliche Frage, sich genau von diesem Naturgeschehen zu unterscheiden?

L: Ja. Also es gab ja zur Nazi-Zeit oder zur Höhezeit des Faschismus so Theorien, die versuchten, von der Evolutionstheorie wegzukommen, weil das uns diese Art von Regimes beschert hat - Huxley: „Evolution in the Ethics“ oder Karl Mannheim - Planung, Umbau der Gesellschaft als ein irgendwie doch verantwortbarer, geordneter Prozeß.

H: Der ganze Marxismus ist der Versuch, einer bestimmten Evolution zu entgehen.

L: Ja, ja. Also was man tatsächlich sehen kann, ist eine gewisse Möglichkeit, retrospektiv zu korrigieren, was entstanden ist. Andererseits ist das nicht so übermäßig erfolgreich.

H: Ja.

L: Oder man muß, wenn man Trends sieht, etwas hinzuerfinden. Also die Globalisierung der Produktmärkte erfordert andere Managementstrukturen in den Firmen. Oder natürlich auch die zunehmende Bedeutung internationaler Politik in dem Sinne, daß man also sich... ein Staat sich für das interessieren muß, was nicht unmittelbar in den eigenen Grenzen passiert, sondern, was weiß ich, in Neuseeland oder wo immer Und daß eine internationale Politik ein kompliziertes - also in den USA vor allen Dingen - ein kompliziertes Verhältnis zur Innenpolitik hat: Das sind dann also Probleme, die in gewisser Weise neu sind, aber für die auch wieder Lösungen gefunden werden, mehr oder weniger befriedigende Lösungen.

H: Das heißt, Sie halten von Theorien, die davon ausgehen, daß die Ressourcen nicht ausreichen, um diesem Typ von hochentwickelten Gesellschaften weiterhin Bestand zu geben, und ähnlichen mit negativen Untergangsphantasien konnotierten Visionen nichts?

L: Ich würde vorsichtiger sein. Also es gibt Sektoren, Energieproduktion ist einer von denen ... Werden wir immer genügend Energie-, verbrauchende Energieproduktion haben, um die gesamte Wirtschaft damit beliefern zu können? Da bin ich nicht sicher.

H: Und was passiert dann, wenn wir das irgendwann nicht mehr haben?

L: Dann gibt es Kollapse noch und noch. Dann kriegt man also plötzlich das Haus nicht mehr geheizt oder den Wagen nicht mehr betankt, und dann müssen sich irgendwie Lösungen einspielen, die auf einem geringeren Grad eine Zufriedenheit und ...

H: ... Komplexität ...

L: Ja, ja.

H. Das halten Sie für durchaus möglich?

L: Ja, also vor allen Dingen im Energiesektor, nicht so ganz generell. Aber ich weiß nicht, wie man wirklich ..., ob man ..., ob es technologisch absehbar ist, eine laufende Reproduktion von Energie in dem Maße, wie wir es heute brauchen, sicherzustellen - technisch, wenn es mal kein Öl mehr gibt und keine Kohle usw.

H: Aber was ist mit dem anderen Satz, den es da auch gibt von der Weltbank, ich glaube, der heißt: „Ab 30 Dollar Jahreseinkommen beginnt die Demokratie.“ Das heißt, daß die halbe Welt, wenn nicht zunehmend ein noch größerer Teil der Welt, die materiellen Voraussetzungen offensichtlich gar nicht hat, an so hoch differenzierten Kommunikationsprozessen wie einer Demokratie teilzunehmen, während die demokratischen Länder alle Waffen der Welt haben, um erstens ihre Gesellschaften und Staaten zu sichern und zweitens die anderen daran zu hindern, in ähnlicher Weise hochzukommen - ich versuche das mal ein bißchen platt zu konstruieren.

L: Ja, ich weiß nicht, ob irgend jemand Interesse hat, zu verhindern, daß in Schwarzafrika Demokratien entstehen.

H: Nein, das nicht, aber sie können nur entstehen unter bestimmten ökonomischen Voraussetzungen.

L: Ja, ja.

H: Und die zu verhindern, haben sicher einige Interesse. Oder vielleicht auch nicht, ich weiß es nicht.

L: Ich weiß nicht, ob das ein Verhinderungsinteresse ist oder ob es einfach nur eine Selbstvorsorge ist, für eigene, sagen wir mal, sehr kostspielige technologische Verbesserungen und was immer - mit dem Nebeneffekt, daß dann andere nicht zum Zuge kommen.

H: Also gibt es Sorgen, das ist meine abschließende Frage, politische Sorgen, Entwicklungssorgen, Evolutionssorgen, die Sie haben, und von denen Sie meinen, daß Ihre Theorie sie, wenn sie nur genügend Berücksichtigung fände, abmildern könnte.

L: Also - abmildern weiß ich nicht. Ich denke, daß es bessere Beschreibungen von Problemen geben könnte. Also beispielsweise, wenn man annimmt, daß die globale Gesellschaft auf funktionaler Differenzierung, auf dieser Basis läuft, daß Politik, Wirtschaft, Recht, Erziehung usw. getrennten Logiken folgen, dann hat das natürlich Konsequenzen in ..., einmal in der Unübersichtlichkeit der Beziehung zwischen diesen - also wirkt sich mehr Erziehung gut oder schlecht auf Demokratie aus usw. Und wenn man keine schulische Versorgung sicherstellen kann, was ist dann die Zukunft des Rechtssystems zum Beispiel? Und andererseits ...

H: Darüber sind Aussagen möglich?

L: Ja, Ich denke schon. Und dann die zweite Frage: Wie wirkt sich dieser Trend einer funktionalen Globalisierung auf regionale Verhältnisse aus? Kann jede Region mit dem Bestand, von dem sie im Moment ausgeht, dem Rechnung tragen? Heißt weltgesellschaftliche Funktionalisierung zugleich, daß das auch in Brasilien sein müßte, oder in Guatemala oder in Slowenien.

H: Ihrer Meinung nach ja.

L: Ich bin nicht so sicher. Ich meine, ein Faktum ist, daß man sich regional der Weltgesellschaft zu stellen hat irgendwie, daß also die Versuche, Kapital ins eigene Land zu ziehen zum Beispiel, auf den internationalen Finanzmärkten ausgeführt werden müssen. Aber was man im Moment sieht, ist eigentlich nur ein ..., eher ein Mißlingen dieser Trendversuche in regionalen Bereichen. Also schon die Trennung von Recht und Politik ist schwierig in Mexiko oder in Brasilien; damit auch die Frage, welche Bedeutung eine Verfassung hat zum Beispiel. Und diese Trennung mag also international durchgesetzt sein, aber was das konkret nachher heißt ... Es gibt ein Netz von Haftpflichtrechten, aber was heißt das, wenn man vor Ort Recht nur bekommt, wenn man zunächst mal etwas bezahlt.

H: Also Bestechung und Korruption.

L: Ja, ja.

H: Und Sie meinen, eine präzisere Beschreibung dieser Systeme würde helfen oder würde die Fatalität des Gesamtzusammenhangs zeigen?

L: Eher letzteres, aber das kann natürlich auch wiederum helfen, einerseits sozusagen unnötige Aufregung einzusparen - so ist es eben -, und in diesem Sinne fatalisierend zu wirken; andererseits aber auch präzisere Vorstellung über das, was man dann trotzdem ändern kann und wo man ansetzen muß, doch zu ermöglichen.

H: Jetzt müssen Sie uns zum Schluß noch etwas über Ihren legendären Zettelkasten sagen, denn dieses ganze Werk wäre nicht geschrieben worden, die vielen Bücher und Aufsätze, wenn Sie nicht ein offensichtlich perfektes - man sagt von Hegel, er hatte so etwas ähnliches, aber ich weiß nicht genau, wie es aussah - System der Verzettelung Ihrer Lektüren oder Gedanken hätten. Den haben Sie schon, diesen Zettelkasten, seitdem Sie also ..., seit Beginn des Studiums, haben Sie, glaube ich, mal gesagt.

L: Nein, nach dem Ende des Studiums. Ich habe zunächst einmal mit Mappen gearbeitet und Zetteln, die fliegen dann raus, und dann muß man ... Und dann habe ich das so... Ich glaube, 51 oder so etwas, habe ich das Ganze umorganisiert auf einen Kasten, wo jeder Zettel eine feste Nummer hat.

H: Einfach durchnumeriert, von 0 bis ...

L: Ja, dann gibt es also schon Cluster-Bildung und so etwas, aber im Prinzip ist es eine Unendlichkeit, die also nach innen, wenn man also, sagen wir mal, den Zettel 21/3a17 hat, dann kann man 18 machen oder man kann 17a machen, und ...

H: Also das heißt, Sie haben eine versigelte ...

L: Ja.

H: Sie haben eigene Sigel.

L: Ja. Jeder Zettel hat seine feste Nummer, die nie geändert wird.

H: Aber das ist ein Sigel, schon?

L: Ja, ja.

H: Hat die Nummer irgendeinen Sinn?

L: Nein. Das ist nur ... Man hat natürlich eine Gewohnheit, daß man weiß ..., wenn man also Paradoxie sucht, dann müßte das unter der und der Nummer zu finden sein. Aber ich habe natürlich ein Schlagwortregister, wo ich nachgucken kann.

H: Aha. Und unter dem Schlagwortregister werden wieder diese Nummern eingetragen.

L: Ja.

H: Also was für Registrierungen dieser Zettel haben Sie sonst außer dem Schlagwortregister?

L: Im Zettelkasten selbst gibt es einen Zettel mit Verweisungen, wo dann steht, also hier geht es um Paradoxie, Paradoxie-Schule usw. Der Vorteil dieser festen Numerierung, die nie geändert wird, ist, daß man eben von jedem Punkt auf jeden anderen verweisen kann.

H: Aber Sie müssen diese Verweise immer nachtragen.

L: Ja.

H: Sie müssen dann alte Zettel nehmen und dann einen neuen Verweis auftragen ...

L: Ja.

H. ... und bei neuen Zetteln gucken, wieviel alte Zettel habe ich, auf die ich jetzt verweisen müßte.

L: Ja.

H: Das heißt, Sie arbeiten, selbstreferentiell sozusagen, permanent diesen Zettelkasten auch durch ...

L: Ja.

H: ... lesen auch alte Zettel immer wieder mal ...

L: Ja.

H: ... und schmeißen auch raus?

L: Nein.

H: Nie?

L: Nie.

H: Also auch Zettel, die sich einfach nicht verweisen lassen, wo keine Verweise ...

L: Nein, Die bleiben dann so stehen. Die haben ihre Nummer und bleiben dann.

H: Die sind sozusagen 'Leichen'.

L: Ja, ja.

H: Und wenn Sie lesen, verzetteln Sie sofort?

L: Ja.

H: Verzetteln Sie sich, sozusagen ...

L: Ja, ich lese ein Buch durch, mache Notizen und dann ...

H: ...unterstreichen auch richtig, mit Bleistift?

L: Nein, im Buch nicht. Nein, nein.

H: ... machen Notizen am Rand?

L: Nein, auch nicht. Ich mache einen Zettel mit den bibliographischen Angaben. Auf der Rückseite werden 'Seite soundso ist das und das, Seite soundso ist das und das' eingetragen, und dann wandert das später in den bibliographischen Kasten, wo ich alle gelesenen Sachen bibliographisch erfasse.

H: Sie bibliographieren jedes Buch, das Sie lesen?

L: Ja, ja.

H: Jedes?

L: Ja.

H: Es gibt kein Buch ... höchstens ein unwichtiges ...

L: Ja, ja. Dann sicher.

H: Dann kommt es weg.

L: Ja, ja.

H: Aber jedes Buch, das einigermaßen Ihnen einen Gedanken gibt, wird sofort erfaßt. Das heißt, daß Lesen bei Ihnen relativ lange dauert, nicht?

L: Ja, weil ich auch im ... Beim Lesen habe ich einen Zettel, wo ich immer draufschreibe, Seite 13, das und das; 25, das und das. Auf der Rückseite sind dann die bibliographischen Angaben, und später kann ich dann sehen, was mir damals bei der Lektüre aufgefallen ist.

H: Was ist, wenn Sie ein Buch ein zweites, ein drittes Mal lesen? Nehmen Sie dann den alten Zettel und erweitern ihn?

L: Manchmal mache ich es ganz neu, aber das kommt relativ selten vor. Ich meine überhaupt, ein wiederholtes Lesen kommt relativ selten vor.

H: Ja?

L: Ja.

H: Auch die großen Standardwerke, zum Beispiel, Krisisschrift, Husserl ...

L: Ja, kommt also ... lese ich nicht noch mal, ich meine, ich könnte es, aber ich habe ja gar keine Zeit, ich muß ... Ich lese sehr stark problemorientiert immer und ...

H: Ja, das heißt, was einmal in diesem Zettelkasten als gelesen und verstanden notiert ist, selbst wenn es der größte Irrtum war, bleibt.

L: Ja, ja.

H: Bis Ihnen jemand sozusagen die Augen öffnet, und sagt: „Mein Freund, das steht da gar nicht. Das hast du da nur reingelesen.“

L: Ja, ja. Dann kann ich das auf dem Zettel vermerken.

H: Und diese Zettel ..., um das auch klar zu machen, diese Zettelarchitektur oder Kastendimension ist inzwischen gewaltig, nicht?

L: Es ist ziemlich umfangreich, ja.

H: Ein paar Meter.

L: Ja, ja.

H: ... und ist die Basis, sozusagen, Ihrer Arbeit.

L: Ja.

H: Ohne die ... Wenn man das Ihnen nehmen würde, dann wäre es schwer.

L: Ja, dann wäre es schwer. Ich habe jetzt eine Alternative, es sind sozusagen halbfertige Buchmanuskripte, die so in Kartons unter dem Tisch liegen und dann kann ich natürlich ... Wenn ich jetzt über Souveränität irgendwas Interessantes entdecke, dann kann ich das in das Manuskript direkt hineintun, wo Staat und Souveränität behandelt wird.

H: Sie schreiben mit der Hand, oder mit der Schreibmaschine, oder mit dem Computer?

L: Schreibmaschine.

H: Immer direkt in die Schreibmaschine?

L: Ja, ja. Die Zettel nicht, das ist zu kompliziert. Diese kleinen Zettel, die mache ich mit der Hand.

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